Ein paar Überlegungen zu Cancel Culture Transfer
Über Starbucks, Polizisten und die Macht, Anekdoten zu gruppieren
[NOTE: My book Cancel Culture Transfer came out last week, and I will be using this newsletter to think through issues that come up in the book’s reception (there have, um, been a couple). Because Cancel Culture Transfer was published in German first, I’m also writing these first entries to this newsletter in German. I don’t intend to keep that up. So if any of my subscribers don’t read German: sorry, please don’t unsubscribe. I did append a translation at the end, but it is a bit rough and not to my stylistic standards (such as they are). Nevertheless: hope you enjoy in either German or English!]
Ich versuche in meinem Buch Cancel Culture Transfer zu zeigen, wie und warum das Sprachspiel “Cancel Culture” funktioniert. Damit ist nicht gemeint, dass es keine Realität hinter dem Begriff gäbe, sondern vielmehr, dass diese Realität (1) von diesem Begriff schlecht beschrieben ist und sogar (2) von ihm aktiv verfälscht wird. Ich denke, es hilft wirklich, sich klar zu machen, auf welche Fälle bezogen wir dieser Tage von Cancel Culture zu sprechen geneigt sind, und in welchen Fällen andere Vokabeln bemüht werden, das Wort “Canceln” hingegen nicht.
Ich hatte in einem Interview (mit Nadia Zaboura und Nils Minkmar) gesagt, dass Ängste vor Cancel Culture vor allem in etablierteren und wohlhabenden Schichten grassieren, und weniger bei Leuten, die bei Starbucks Lattes ausschenken. Das basierte (ohne dass ich das im Interview erwähnt habe) auf einer Pew-Studie aus dem Jahr 2021, in der sich klar zeigt, dass vor allem Männer, vor allem junge Menschen und vor allem Menschen mit hohem Bildungsgrad “viel” oder “einiges” über Cancel Culture gehört hatten. Meine Bemerkung hat dennoch auf Mastodon zu Widerspruch geführt, den ich für sehr erhellend halte.
Denn ich glaube, Folgendes gehört zu einem der ersten Tricks des Cancel Culture-Diskurses: einerseits benutzt er “Canceln” als Synonym für “Jobverlust aufgrund von moralischer Erregung anderer” und Angst vor Cancel Culture als “Angst vor Jobverlust aufgrund von moralischer Erregung anderer”. Aber andererseits lässt sich aus dem Kontext, in dem “Canceln” und “Cancel Culture” gemeinhin fallen, klar erkennen, dass nur ganz bestimmte Formen des Jobverlusts von ganz bestimmten Figuren (und natürlich auch ganz bestimmte Formen moralischer Erregung) gemeint sind. Andere mögen die formalen Parameter erfüllen, verschwinden aber mal ums mal mysteriöserweise von der Bildfläche, wenn es darum geht, die Rede von der “Cancel Culture” mit Inhalt zu füllen. Das bedeutet nicht, dass andere nicht Angst vor Jobverlust haben — aber weder sie noch die Journalist:innen, die vor ihr warnen, würden diese Angst mit “Cancel Culture” in Verbindung bringen.
“Cancel Culture” als Angstobjekt setzt eine gewisse Fallhöhe (im Bezug auf Status, Jobsicherheit, Bezahlung) voraus, selbst oder gerade in Branchen, in denen nur noch wenige diese Fallhöhe überhaupt erreichen. Es geht, mit anderen Worten, nicht um den freien Journalisten, der nicht mehr angefragt wird, sondern den mächtigen Herausgeber, der gehen musste. Und ich würde eben auch behaupten, dass ein:e Barista bei Starbucks nicht von “Gecancelt Werden” sprechen würde — ein:e Manager:in im Corporate Headquarter von Starbucks hingegen vielleicht schon. Das weist auf eine seltsame aber äußerst informative Divergenz zwischen Begriff und unter ihm begriffener Realität hin; die, wie ich meine, zeigt, dass der Begriff der Realität nicht wirklich gerecht wird.
Ich fand die Widerrede, die nach meinem Starbucks-Beispiel aufkam, wie gesagt einigermaßen interessant: sie wies darauf hin, dass natürlich Menschen die bei Starbucks arbeiten Angst vor Jobverlust hätten. Der Widerspruch erinnerte mich an die Tatsache, dass es ein Mini-Genre von Anekdoten gibt, die mit Starbucks zu tun haben, die in der Tat fast wie Cancel-Anekdoten wirken, aber fast nie im Kontext von Cancel Culture-Diskussionen vorkommen (in Deutschland soweit ich sehen konnte überhaupt nicht). Es handelt sich um Zwischenfälle, bei der Polizist:innen in den USA in Restaurants zur Zielscheibe von Beschimpfungen oder Disrespekt vonseiten des Personals werden (oder behaupten zu Zielscheiben geworden zu sein — häufig steht in solchen Fällen Aussage gegen Aussage). Und das, obwohl natürlich hier ganz klar freie Meinungsäußerung (von der uns ja gesagt wird, dass wir sie zu tolerieren hätte, “selbst wenn” sie z.B. anstößig ist). Das, obwohl in fast allen Fällen die Antwort der Öffentlichkeit (gerade auch online) und die Antwort des Arbeitgebers absolut überzogen ausfällt.
Ich habe nach einer kurzen Recherche über 20 solcher Fälle gefunden — der früheste aus dem Dezember 2014, der jüngste aus dem Februar 2022. Solche Anekdoten begleiten, mit anderen Worten, die jüngste Kontroverse um Polizeigewalt in den USA. Wie dem auch sei: In vielen dieser Fälle haben die unter Beschuss geratenen Angestellten ihren Job verloren, und zwar häufig sofort (und vor Abschluss einer genaueren Untersuchung). Ungefähr die Hälfte dieser Fälle hat mit Starbucks-Filialen zu tun. Man kann diese Fälle generell in 3 Szenarien unterteilen: im ersten Fall ist der Zwischenfall komplett erfunden. Die “illegale Einwanderin”, die Polizisten in Alabama gesagt haben soll “we don’t serve pigs” und deren Fall im Juli 2016 in konservativen Medien für Schlagzeilen sorgte, scheint es z.B. nicht gegeben zu haben. In einigen anderen Fällen scheinen die Bedienungen die Äußerungen zugegeben zu haben — obwohl sie in fast allen Fällen entweder von einem falsch verstandenen Scherz oder einem durch sprachliche Schwierigkeiten entstandenen Missverständnis sprechen. Ihren Job sind sie natürlich so oder so los.
Das dritte Szenario ist das häufigste: es steht das Wort der Polizist:innen gegen das der Mitarbeiter des jeweiligen Etablissements. Häufig wird die Position der Polizei in einem Facebook-Post oder einem Tweet einer Polizeigewerkschaft verbreitet, und dann von lokalen Medien übernommen. Im Normalfall entschuldigt sich das Unternehmen und kündigt weitere Schulung des Personals an, wenn ein Beschuldigter benannt wird, kann es auch zu einem Rausschmiss des jeweiligen Mitarbeiters kommen. In einem Fall, in dem eine Barista in Park Ridge, New Jersey beschuldigt wurde, in den Kaffee eines Polizisten gespuckt zu haben, scheint es sogar zu einer Festnahme wegen Körperverletzung gekommen zu sein.
Warum erzähle ich das alles? Nicht, um zu sagen, dass hier die “wahre” Cancel Culture liege. 20-30 Fälle in 7 Jahren in einem großen Land sind keine besonders belastbare Datenlage, auch wenn diese Fälle eigentlich strukturell einander stärker ähneln als die meisten in Cancel-Culture-Datenbanken gesammelten Fälle: die Beschuldigenden, die Beschuldigten, die spezifischen Anschuldigungen sind nahezu identisch, die Konsequenzen kann man genau nachlesen. Wenn man sich überlegt, wie häufig in Cancel Culture-Anekdoten die Forderung nach Demission mit einer Demission gleichgesetzt wird, sind diese Starbucks-Anekdoten vergleichsweise eindeutig. Die absolute Mehrheit der solchermaßen Beschuldigten hat ihren Hauptberuf tatsächlich verloren. Der Vorwurf war klar benannt. Und er war normalerweise eine Winzigkeit, der dennoch jahrzehntelange Arbeitsverhältnisse zum Opfer fielen.
Eigentlich, so sollte man meinen, also gefundenes Fressen für den Diskurs um Cancel Culture. Worauf ich hinaus will ist schlicht Folgendes: diese Anekdoten existieren seit 7 Jahren parallel mit der eskalierenden Furcht vor Cancel Culture, seit 5 Jahren sogar mit dem Begriff selber. Aber nicht einer der Artikel, die ich über sie finden konnte, verwendete für sie das Wort. Das weist auf die pragmatische Bedeutung des Wortes “Cancel Culture” hin: wir wissen/spüren, dass man das Wort so nicht verwendet, dass man es auf eine aufgrund eines pikierten Polizisten geschasste Barista nicht anwenden kann.
Warum aber? Erstens anscheinend deshalb, weil Cancel Culture implizit links verortet wird, eher unter Anhängern von Black Lives Matter denn unter Polizisten (es ist kein Geheimnis, dass diese Art angeblichem Zwischenfall sich verstärkte, je mehr die amerikanischen Police Departments an Popularität einbüßten). Zweitens gehen diese Erregungen einen eher traditionellen Weg: von einem Facebook-Post zu einem lokalen Fernsehsender, häufig zu einer Boykottkampagne und Drohanrufen oder Drohbriefen an das betreffende Restaurant. Der “Twitter-Mob” der öffentlichen Imagination ist da vergleichsweise modern und weitaus stärker entlokalisiert.
Drittens aber sicher auch, weil diese Anekdoten eine Frage in den Vordergrund zerren, die eine gute Cancel-Anekdote gemeinhin verschweigt. Denn egal was man von der Entscheidung eines Konzerns hält, Mitarbeiter wegen freier Meinungsäußerung vor die Tür zu setzen (in vielen Fällen handelt es sich um nichts mehr als eine geäußerte Meinung, selbst wenn wir den Beschreibungen der Polizist:innen komplett glauben): es ist erschreckend, wie leicht und umstandslos diese Mitarbeiter rausgeworfen werden können. Mit anderen Worten: es handelt sich hier nicht um Parabeln über die Erregbarkeit der Massen, sondern um Parabeln von der Wichtigkeit des Arbeitsrechts. Und das dürfen Cancel-Stories nie sein: Geschichten vom Kapitalismus, von der Abhängigkeit, von der Prekarität. Vom Imperativ, sich in den sozialen Netzwerken zu äußern, um wahrgenommen und gelesen zu werden — von Seiten von Organisationen, die Autor:innen fallen lassen, sobald es ihrem Reputationsmanagement entgegen kommt. Das sind interessante, wichtige Fragen. Und an den seltsamen Vorfällen in irgendwelchen Starbucks-Filialen in Houston, Park Ridge, oder Glenpool Oklahoma kann man ziemlich klar erkennen, dass der Cancel Culture-Diskurs sich nicht wirklich um sie schert.
ENGLISH VERSION:
In my book Cancel Culture Transfer I try to show how and why the language game “Cancel Culture” seems to work for a fairly sizable audience, in spite of the fact that the words around which it turns have remained remarkably ill-defined. This does not mean that there is no reality behind the term, but rather that this reality is (1) badly described by this term and even (2) actively distorted by it. I think it really helps to be clear about which cases we tend to speak of when we warn about cancel culture these days, and in which cases other vocabulary is used but the word "cancelation" (or “identity politics”, or “self-censorship”) is not.
I said in an interview (with Nadia Zaboura and Nils Minkmar) that fears of cancel culture are particularly rampant among (and with regard to) the more established and wealthy within any particular profession or field, and less so among people who serve lattes at Starbucks. This was based (without my mentioning it in the interview) on a Pew study from 2021, which clearly shows that awareness of “Cancel Culture” is not evenly distributed in the population (in this case the US population): that especially men, especially liberals, especially young people and especially highly educated people "a lot" or "some ” had heard about Cancel Culture. My remark has nevertheless led to some disagreement on Mastodon, disagreement that I think is very helpful in sharpening our terms.
Because I think the following is one of the first tricks of the cancel culture discourse: on the one hand the discourse uses “cancel” as a synonym for “job loss due to moral outrage of others” and fear of cancel culture as “fear of job loss due to moral outrage of others". But on the other hand, the context in which “cancel” and “cancel culture” are commonly used makes it clear that only very specific types of job loss by specific characters (and, of course, specific types of moral outrage) are meant. Others are acknowledged as related, but not ultimately salient. That of course doesn't mean others aren't afraid of losing their jobs — but neither they nor the journalists who warn about it would associate that fear with "cancel culture."
"Cancel culture" as an object of fear requires a certain level of security, power and privilege from which to fall, even or especially in sectors in which only a few reach this level at all. In other words, cancel culture worries rarely seem to attach to the freelance journalist who is no longer asked to write for a publication, but instead the powerful editor who had to go. Likewise I would also say that a barista at Starbucks would not speak of "being cancelled" - a manager at Starbucks' corporate headquarters, on the other hand, might. This points to a strange but extremely informative moment of non-contiguity in concept and described reality, one that I think helps us understand why the concept doesn’t ultimately do a very good job describing reality.
As I said, I found the counterargument that arose after my Starbucks example pretty interesting. Because the contradiction reminded me of the fact that there is a mini-genre of Starbucks-related anecdotes that in fact almost seem like cancel anecdotes, but almost never appear in the context of cancel culture discussions (in Germany, as far as I could see, they do not appear at all ). These are incidents in which police officers in restaurants in the United States are (or claim to have been) the target of abuse or disrespect from staff — it’s not clear which, often testimony stands against testimony in such cases. Even though of course these incidents are clearly concerned with freedom of expression (of which we are told that we have to tolerate it, “even if” it is repugnant, objectionable or whatever), even though the case is amplified by an outraged response from the public (particularly online), even though the employer usually panics and just goes ahead and fires the employee(s) in question: in spite of all of this, these aren’t usually treated as episodes of “cancellation.”
I found over 20 such cases after a quick search — the earliest from December 2014, the most recent from February 2022. Such anecdotes accompany, in other words, the recent debates over police brutality in the US. Be that as it may, in many of these cases, the employees who came under fire lost their jobs, often immediately (and before a more thorough investigation was completed). About half of these cases involve Starbucks stores. The cases can generally be divided into 3 scenarios: in the first case, the incident is completely made up. For example, the “illegal immigrant” who is said to have told police officers in Alabama “we don’t serve pigs” and whose case made headlines in conservative media in July 2016 does not seem to have existed. In some other cases, the waitresses seem to have admitted the remarks — although in almost all cases they say it was either a misunderstood joke or a misunderstanding caused by language difficulties. Of course they lost their job one way or the other.
The third scenario is the most common: the word of the police officers stands against that of the employees of the restaurant. Often the police’s version of events is shared in a Facebook post or police union tweet, and then picked up by local media. Normally, the company apologizes and announces further training of the staff. If a suspect is named, the employee in question can also be fired. In a case where a barista in Park Ridge, New Jersey was accused of spitting in a police officer's coffee, there appears to have even been an arrest for assault.
Why am I telling you all this? Not to say that this is where the “true” cancel culture lies. 20-30 cases in 7 years in a large country are not particularly suggestive data, even if these cases are actually structurally more similar to one another than most cases collected in Cancel Culture databases: the accusers, the accused, the specific allegations are almost identical , the consequences are straightforwardly laid out in the public record. If you consider how often in Cancel Culture anecdotes the demand, say, for a professor’s resignation is equated with that professor’s firing, these Starbucks anecdotes are comparatively free of ambiguity. The absolute majority of those accused in this manner have lost their jobs. The accusation was clearly stated. And it was usually a tiny thing, a gesture or a withheld courtesy, which ended decades of employment.
Would this be a tailor-made type of story for the discourse on cancel culture? What I'm getting at is this: these anecdotes have existed for 7 years alongside the escalating fear of cancel culture. But not one of the articles I could find about the phenomenon (and there are a couple) used the word for her. This points to the pragmatic meaning of the word “cancel culture”: we know/sense that the word is not used in such a way that it could sensibly be applied to a barista who was fired because of a piqued cop.
But why? First, apparently, because in media discourse Cancel Culture is implicitly left-wing, and emanates from Black Lives Matter supporters. Cancellations that emanate from cops and targets those supporters need not apply. Second, these kerfuffles take a more traditional media route than what media usually proffer as cancel-anecdotes: from a Facebook post to a local TV station, often to a boycott campaign and threatening phone calls or letters to the restaurant in question. The “Twitter mob” of the public imagination is comparatively modern and much more delocalized. There is something deeply traditional about this freakout, and it emanates from traditionally powerful actors within American society.
Thirdly, the reason these anecdotes don’t seem to count is because they bring a question to the fore that a good cancel anecdote generally elides. Because no matter what one thinks of a corporation's decision to can employees for free speech (in many cases, it's nothing more than an opinion expressed, even if we completely believe the police officer's descriptions): it is deeply frightening how easily these employees can be fired. In other words, these are not (just) parables about the excitability of the masses, but primarily about the importance of labor law. And that, it turns out, cancel stories are never allowed to be: stories about capitalism, about dependency, about precarious employment. That’s why we call it Cancel “Culture” after all — to not have to talk about political economy. We don’t talk about the imperative to express yourself in social networks amongst precarious academics or journalists — an imperative that often enough emanates from organizations who’ll run the other as soon as it suits their reputation management. These are interesting, important questions. And it's pretty clear from the incidents at the various Starbucks, whether in Houston, Park Ridge, or Glenpool Oklahoma, that the Cancel Culture discourse doesn't really care about them.